Wenn es um Wahrheiten geht, sind sich die Menschen selten einig. Besonders trifft das zu auf Wissenschaftler. Dabei geht es in der Wissenschaft gerade um Wahrheit. Eigentlich steht das im Widerspruch. Gibt es nur eine Wahrheit oder mehr als eine Wahrheit in der gleichen Angelegenheit?
Ich gebe hier einige Sammlungen aus dem Blog, zusammengefasst als Dateien, die leicht heruntergeladen werden können.
Kontroversen
Wenn es um Wahrheiten geht, sind sich die Menschen selten einig. Besonders trifft das zu auf Wissenschaftler. Dabei geht es in der Wissenschaft gerade um Wahrheit. Eigentlich steht das im Widerspruch. Gibt es nur eine Wahrheit oder mehr als eine Wahrheit in der gleichen Angelegenheit?
Montag, den 13. April 2020
Bevor ich aus meinen Arbeitserfahrungen erzähle, hole ich aus – soweit wie möglich.
Ich bitte um Nachsicht, wir befinden uns mitten in der Coronakrise und die Bibliotheken sind geschlossen. Bis Mitte März habe ich einige Literatur erlangen können, teilweise kopiert oder als pdf-Datei heruntergeladen. Einiges habe ich noch nicht erhalten. Das ist nachzuholen. Trotzdem ist die Sache anzufangen und ich will das gründlich tun. Deshalb hole ich weit aus.
Haeckel gegen Hensen
Zu Ende des 19. Jahrhunderts fand eine denkwürdige Auseinandersetzung zwischen zwei bekannten deutschen Gelehrten statt. Ernst Haeckel und Victor Hensen hatten als Medizinstudenten ein Semester zusammen bei Professor Johannes Müller studiert. Sie gingen danach getrennte Wege. Häckel wurde Professor für Zoologie in Jena, Hensen wurde Professor für Physiologie in Kiel. Beide hatten dreißig Jahre nach dem Studium das gleiche Arbeitsgebiet, das Plankton des Meeres. Sie fassten es aber ganz unterschiedlich auf. Haeckel warf in seiner Streitschrift Hensen vor, er tue Unnützes. Heute viele Jahre später (Porep 1972) wird gesehen, dass hier zwei völlig unterschiedliche Haltungen gegenüber dem Meeresplankton zum Ausdruck kamen. Auf der einen Seite stand der begnadete Künstler Haeckel in seiner vergleichenden Betrachtung der Lebenserscheinungen und fragte nach Verwandtschaften und Abstammung. Auf der anderen Seite suchte Hensen nach Wirkungszusammenhängen, fasste seine Ergebnisse in mathematische Formeln und arbeitete an der Erfassung der Produktionskraft des Meeres.
Die ersten Gelehrten, welche Planktonorganismen unter das Mikroskop legten, um sie zu beschreiben, waren die Mediziner Johannes Müller und Rudolf Albert von Koelliker. Johannes Müller verwendete als erster zum Fang von Plankton einen Handkescher, den er mit Beuteltuch bestückte. Das Beuteltuch oder Seihtuch besteht aus einem engmaschigen Seidengewebe, das die Müller zum Sieben von gemahlenem Getreide benutzten. Später wurde dieses Seidengewebe unter Planktologen als Müllergaze bekannt. Mit dem Handkescher war es aber nur möglich, an der Oberfläche zu fischen. Hensen baute für die Probenahme unterhalb der Oberfläche das erste konische Netz, dessen Bauprinzip heute noch viel verwendet wird. Er berechnete die Durchlässigkeit des Netzgewebes für Wasser und daraus den Netzfaktor. Das Netzgewebe wirkt als Bremse für die Bewegung des Wassers und nur ein Teil des Wassers, auf welches die Netzöfffnung trifft, tritt tatsächlich in das Netz ein und verlässt das Netz durch die Maschen. Bald bemerkte er, dass dieses Fanggerät seinem Wunsch nach einer verlässlichen quantitativen Beprobung nicht entsprach, weil die Netzmaschen durch die Planktonorganismen verstopft werden. Später ging er noch einen Schritt weiter und dachte an, es wäre besser, das Wasser zu schöpfen und auf dem Schiffsdeck zu filtrieren.
Quantitative Arbeit bedeutete für Hensen zuerst, nach den Begrenzungen seiner Arbeitsgeräte zu fragen. Wie viel kann ein Netz als Arbeitsgerät leisten? Einfach ein Netz durchs Wasser ziehen?
Porep, Rüdiger, 1972. Methodenstreit in der Planktologie – Haeckel contra Hensen: Auseinandersetzung um die Anwendung quantitativer Methoden in der Meeresbiologie um 1890. Medizinhistorisches Journal Band 7, Heft 1/2, S. 72-83.
Porep ist Medizinhistoriker und übernimmt von seinem Kollegen K. E. Rothschuh die Einteilung in Systematiker und Methodiker, um den Unterschied zwischen Haeckel und Hensen zu erklären. Beide waren Mediziner vom Studium her und gingen mit völlig unterschiedlichen Haltungen an das Meeresplankton.
Der Systematiker Ernst Haeckel hatte Naturgeschichte betrieben, Ordnung in die lebendige Natur zu bringen. Er hatte Klassifizierung betrieben, Arten neu beschrieben und Stammbäume erstellt. Und er tat das aus einer sehr selbstsicheren Haltung, soweit, dass er mit der Abstammungslehre und mit seiner Lehre vom Monismus absolute Wahrheiten verkündete und Kritiker grob anging.
Der Methodiker Victor Hensen hatte gefragt, wie kann ich meine Arbeitsgeräte verbessern, um sein Ziel, die Erfassung der biologischen Produktionskraft im Meer zu betreiben. Der Handkescher seines Lehrers Johannes Müller war ihm nicht genug, so baute er ein völlig neues Planktonnetz, dessen Konstruktionsprinzip teilweise heute noch benutzt wird. Er hatte Zweifel an bestehenden Geräten und hat diese verbessert bis hin zur Neukonstruktion. Er war sich der Grenzen seiner Konstruktionen bewusst, hat einen Netzfaktor berechnet, um zu ermessen, wie viel Wasser das Planktonnetz tatsächlich durchfließt und wie viel Wasser damit gefiltert wird. Auch das Problem der Verstopfung war ihm bewusst, wie aus einem kurzen Beitrag im Centralblatt hervorgeht.
Hensen, V. , 1895. Methodik der Untersuchungen bei der Plankton-Expedition. Kiel und Leipzig. Zitiert nach Kofoid 1897. On some important sources of error in the plankton method. Science, New Series. Vol. 6, No. 153 (Dec. 3, 1897), pp. 829-832.
Hensen, Victor, 1897. Bemerkungen zur „Planktonmethodik“. Biologisches Centralblatt Band 17, 510-512.
Zu seinen Lebzeiten war Hensen als Methodiker nicht allein. Mehr als einer hat um die Jahrhundertwende zwischen 1890 und 1905 den Vergleich angestellt und beim Planktonfang sowohl das Zugnetz wie die Pumpe benutzt.
19. April 2020
Kofoid (1897 a,b) sammelte an einem drei Meter tiefen Fluss. In solch einem flachen Gewässer mit wechselnden Wasserständen und Bewuchs mit Unterwasserpflanzen ist es schwierig mit dem konischen Netz zu arbeiten. Er baute einen Seilzug in das Gewässer mit einem vom Grund bis zur Oberfläche schräg gespannten Leitseil, an dem das Netz aufgehängt war. Das Netz wurde im Schrägzug daran entlang gezogen über dreißig Meter. Parallel dazu stellte er eine Pumpe auf ein Ruderboot, und verband diese mit einem Schlauch. Die Pumpe hatte zwei Zylinder, eine senkrechten Schwengel und lieferte einen ziemlich gleichmäßigen Wasserstrom. Gepumpt wurde vom Grund bis zur Oberfläche. Das gepumpte Wasser wurde in ein Netz geleitet, das in einem hölzernen Rahmen neben dem Boot im Wasser hing. Der Überbord des Rahmens betrug acht Zentimeter und reichte aus.
Kofoid, C. A., 1897. Plankton studies. I. Methods and Apparatus in use in plankton investigations at the Biological Experiment Station of the University of Illinois. Bulletin of the Illinois State Laboratory of Natural History, Urbana, Ill. Band 5, 1-25. Seven plates.
Die Ergebnisse aus diesen Untersuchungen veröffentlichte Kofoid im gleichen Jahr in der Zeitschrift Science. Der Vergleich von Netz- und Pumpenfang ergab Netzkoeffizienten von 1,5 bis 5,7 als Maß für den Fehlbetrag im Netz. Das ist erklärlich durch die hohen und stark wechselnden Planktonkonzentrationen im untersuchten Gewässer. Dazu führte er Netzzüge über unterschiedliche Strecken durch von 5 bis 25 Metern und fand, dass der Netzkoeffizient von 1,5 beim 5 m-Zug auf 4,83 beim 25 m-Zug stieg. 84 bis 96 % eines 30 m-Netzzuges gelangten auf den ersten 15 Metern in das Netz. Das gepumpte Wasser unterwarf er verschiedenen Methoden der Konzentration des Planktons, z. B. mit der Zentrifuge und mit der Verwendung unterschiedlicher Filter. Danach fand er, dass kleine Algen auch durch die Maschen der Seidengaze hindurchrutschen, also nicht im Netz gefunden werden. Es ist festzuhalten, dass diese Ergebnisse bis heute nicht widerlegt, also nicht falsifiziert worden sind.
Kofoid, C. A., 1897. On some important sources of error in the plankton method. Science, New Series. Dezember 1897.
Montag, den 20. April 2020
Robert (1922) verglich am schweizerischen Lac de Neuchâtel Netzfänge und Pumpenfänge. Er benutzte Planktonnetze verschiedener Herkunft aus Seidengaze, Nr. 12 mit Maschenweiten von 65-80 μ und Nr. 20 mit Maschenweiten von 33-70, dazu eine Flügelpumpe und eine Pumpe von Hany. Netze der Nummer 12 fingen vor allem große Zooplankter wie Ruderfußkrebse und Wasserflöhe, während die Netze mit der Nummer 20 junge Ruderfußkrebse, Nauplien, Rädertiere und Phytoplankton fingen. Der Einsatz einer Pumpe ergab gute Fänge von Rädertieren und Phytoplankton, während die großen Zooplankter aus der Gruppe der Wasserflöhe nur schwach oder nicht im Fang vertreten waren. In der Methodenbeschreibung gibt Robert (1922) an, dass er zum Pumpenfang einen Schlauch mit einem Durchmesser von 1,5 cm benutzte.
Robert, Henri, 1922. L`emploi du filet et de la pompe dans les pȇches de plancton. Annales de biologie lacustre. XI, 208-240.
Elster (1958) untersuchte eingehend die möglichen Gerätschaften zum Planktonfang, besonders die Pumpe und ihr Zubehör. Er fand, dass ein Ansaugschlauch mit einem Trichter versehen werden soll oder der Schlauch muss einen Durchmesser von mindestens 2,5 cm haben, um Zooplankton fangen zu können. Von daher ist es im Rückblick verstehbar, dass Robert (1922) bei seinen Pumpversuchen mit einem dünneren Schlauch wenig Wasserflöhe und Ruderfußkrebse fing.
Elster, Hans-Joachim, 1958. Zum Problem der quantitativen Methoden in der Zooplanktonforschung. Verhandlungen des Internationalen Vereins für Limnologie XIII, 961-973.
Gibbons & Fraser (1937) verglichen Netzfang und Pumpenfang auf dem Meer und zogen aus ihren Ergebnissen die Folgerungen, dass die Pumpenmethode praktikabel, einfach, genau und erfolgreich für kleine Formen, aber auch für große Formen ist, wenn diese in ausreichender Zahl vorkommen. Der herausragende Vorteil ist die quantitative Arbeit; sie muss nicht teuer sein, es kann leicht gearbeitet werden und die beprobte Tiefe und das gefilterte Volumen sind genau bekannt. Es soll außer Frage sein, dass die Pumpe nicht das Netz voll ersetzen muss. Die Netze mit größeren Maschenweiten, welche riesige Mengen an Wasser filtrieren bei der Suche nach Formen mit geringer Dichte im Raum, besonders Fischlarven, sind nicht zu ersetzen.
Gibbons, S. G. and J. H. Fraser, 1937. The centrifugal pump and suction hose as a method of collecting plankton samples. ICES Journal of Marine Science Vol. 12, Issue 2, pages 155-170.
Lese ich heute im Jahre 2020 Originalarbeiten über Zooplankton, wundere ich mich, dass so wenige Autoren das Zooplankton aus dem See oder Fluss mittels einer Pumpe fangen. Eine Ausnahme ist Chick et al. (2010). McQueen & Yan (1993) zählten, dass das Planktonnetz mit 53 % am häufigsten in Gebrauch ist. Nur in 30 von 129 Untersuchungen wurde ein Durchflussmesser in das Netz eingehängt, um das filtrierte Volumen zu messen.
Chick, John H., Alex P. Levchuk, Kim A. Medley, and John H. Havel, 2010. Underestimation of rotifer abundance: a much greater problem than previously appreciated. Limnology and Oceanography: Methods 8, 78-87.
McQueen, Donald J. And Yan, Norman D., 1993. Metering filtration efficiency of freshwater zooplankton hauls: reminders from the past. Journal of Plankton Research 15, no. 1, 57-65.
Weiter ernüchternd ist der Vorwurf von Robert H. Peters (1991), dass Bearbeiter von Organismen mehr an der Naturgeschichte interessiert sind, als Ökologie zu betreiben. Wobei ich hier unter Ökologie die Untersuchung von Kausalzusammenhängen und von Stoffumsätzen im Ökosystem verstehe.
Peters, Robert Henry, 1991. A critique for ecology. Cambridge University Press. Cambridge New York Port Chester Melbourne Sydney.
Dieses Buch finde ich im Katalog einer Universitätsbibliothek. Wer leiht es aus und liest es? Die Nachfrage ist so gering, dass es bis heute nicht in die deutsche Sprache übersetzt worden ist. Der Inhalt ist für einschlägige Kreise offensichtlich nicht interessant.
Ich sehe eine Dreiteilung bei den Planktologen. Da sind einmal jene, welche die Organismen an sich betrachten und anderes beiseite lassen; die Fangtechnik z. B. interessiert nicht. Zweitens gibt es einige, welche, ihre Sammeltechniken verbessern wollen und an den Geräten arbeiten. Drittens fahren Fischereibiologen zum Fang von Ichthyoplankton aufs Meer und betreiben hohen Aufwand, um Fischeier und Fischlarven zwecks Bestandsschätzungen zu sammeln. In den letzten beiden Gruppen arbeiten Methodiker an einem Problem. Ich kann verstehen und billige, dass im Biologiestudium die Bestimmungsübungen ein Teil des Grundstudiums sind. Ein Biologe muss wissen, mit welcher Pflanze und mit welchem Tier er arbeitet. Das gehört zu den Grundlagen. Wir brauchen Systematiker.
An unseren heimischen Seen treten wir auf der Stelle.
Gibt es den Gegensatz wie in der Kontroverse zwischen Ernst Haeckel und Victor Hensen noch? Ich lese heute keine Polemik in den Zeitschriften und Büchern. Es gibt ein Schweigen betreffend besserer Arbeitsmethoden. Wer kümmert sich um die Wirkungszusammenhänge im Gewässer und bearbeitet diese? Als Fischereibiologe darf ich nicht die künstlich errichteten Fachgrenzen zwischen Fischerei und Naturschutz beachten, sondern ich muss fachübergreifend arbeiten. Der Phosphor bestimmt als begrenzender Wachstumfaktor (bottom-up) die Menge der Organismen im Gewässer. Das gilt für Algen, Wasserflöhe und für die Fische. Umgekehrt beeinflusst der Tierbestand das Geschehen (top-down) im Gewässer. In den neunziger Jahren des vorigen Jahrhundert ging das Wort von der Ichthyoeutrophierung herum. Das Wort stand für einen negativen Einfluss von Fischbesatz auf den Zustand eines Gewässers und entstand aus den Arbeitsergebnissen an israelischen Fischteichen. Heute vernehme ich dieses Wort nicht mehr, es ist außer Moden gekommen, weil kein quantitativer Beweis in einer Regressionsrechnung erbracht worden war. Das soll die Fischerei nicht hindern, weiter am Problem zu arbeiten und so es nötig ist, sich auch um Zooplankton und Nährstoffe kümmern und diese aus ihrer Sicht bearbeiten.