Das ist ein seltenes Wort, obwohl rein deutsch, aber seltsam. Ich komme nicht daran vorbei, mich damit zu beschäftigen. Es ist immer gut, dafür andere zu bemühen als Zeugen und so zitiere ich aus einem Buch.
Gerald Doppelt: Die Wertgeladenheit wissenschaftlicher Erkenntnis. Seiten 272-304.
in: Werte in den Wissenschaften. Neue Ansätze zum Werturteilsstreit. Herausgegeben von Gerhard Schurz und Martin Carrier. suhrkamp taschenbuch wissenschaft. Erste Auflage 2013. Suhrkamp Verlag Berlin 2013.
Im folgenden Zitat bezieht sich Gerald Doppelt auf ein anderes Buch: Sylvia Noble Tesh. Hidden Arguments: Political Ideology and Disease Prevention Strategy, Trenton/NJ 1988.
Das Zitat aus Doppelt`s Beitrag ist also Sekundärliteratur und ich sehe mich gehalten, mir das Buch von Frau Tesh zu besorgen. Vorläufig halte ich mich an dieses Zitat:
Seite 300 ff in Doppelt (2013).
„Lassen Sie mich die Erkenntnispolitik der Wertgeladenheit abschließend exemparisch illustrieren.
Als die Fluglotsen während der Regierungszeit von Reagan in den Streik traten, feuerte sie Präsident Reagan und stellte Ersatzkräfte ein, die keine Gewerkschafter waren, damit sie die Arbeit erledigten und den US-Luftverkehr wiederherstellten. Die Forderungen der streikenden Fluglotsen basierten auf der Behauptung, sie seien nicht-tolerierenden Arbeitsumständen ausgesetzt, die zu bedrückenden Stressmustern in ihrem Leben führten. Da die drastische Maßnahme von Präsident Reagan gegen die Fluglotsen sehr umstritten war, hielt der amerikanische Kongress formelle Anhörungen ab, um diese Vorwürfe und Gegendarstellungen zu untersuchen. Die Lotsen hatten zahlreiche psychologische, subjektive und moralische Beschwerden über ihre Arbeit: erzwungene Überstunden, konfligierende Anforderungen, fehlender Respekt, erhöhte Arbeitsgeschwindigkeit, Mangel an Kontrolle, die Forderung absoluter Präzision, rassen- und geschlechterbedingte Belästigung und mehr. Die Verteidiger der Fluglotsen (Gewerkschaften sowie Arbeitssicherheitsbehörde) entschieden, ihre beste Strategie in den Anhörungen sie es, die Litanei von Beschwerden im wissenschaftlich-medizinisch objektivierten Diskurs über >>Stress<< zu präsentieren. Medizinische Forscher verbanden Stress mit erhöhtem Risiko für Herzerkrankungen, Schlaganfälle, Magengeschwüre, Diabetes und andere Krankheiten. Mithilfe des Stressbegriffes hofften die Verteidiger, den Beschwerden und Problemen der Fluglotsen wissenschaftliche Legitimität und medizinische Dringlichkeit zu verleihen, um ihre Klagen vor den Kongressermittlern zu rechtfertigen und Reagans repressive Aktion in Frage zu stellen.
Unglücklicherweise ging die Strategie nach hinten los. Die Kongressermittler erbaten Aussagen von wissenschaftlichen Stressexperten, welche die Behauptungen der Fluglotsen diskreditierten und die Position der föderalen Luftfahrtsbehörde (FAA) unterstützten, der zufolge die Beschwerden die individuell-subjektiven Reaktionen auf die Herausforderungen ihrer Arbeiten darstellten, aber kein Muster stressiger Arbeitsbedingungen wiedergäben. Die Experten waren Verhaltenswissenschaftler, die ein Stressparadigma vertraten, das Stress mit physiologischen, biochemischen und psychologischen Messwerten identifiziert. Sie nahmen Herzfrequenzen auf, maßen drei mit Stress zusammenhängende Hormone und benutzten psychologische Tests für Ängstlichkeitsgrade. Auf Basis dieser Maßstäbe zur Bestimmung von Stress gelangten die Experten zum Ergebnis, es sei empirisch inkorrekt, die Arbeit der Fluglotsen als ungewöhnlich stressige Beschäftigung zu beschreiben. Die objektiven wissenschaftlichen Tatsachen sprachen gegen die Behauptungen der Fluglotsen und ihrer Verteidiger, und sie wurden durch genau jenes medizinisierte Stresskonzept diskreditiert, auf das sie sich berufen hatten. Die FAA und die Verhaltenswissenschaftler hatten Messungen, Expertise, Objektivität und Tatsachen auf ihrer Seite.
Dennoch gab es in diesem Kontext auch eine andere Auffassung von Stress, die hätte aufkommen können und den Interessen der Fluglotsen, dem Wert ihres Arbeitsschutzes und vielleicht auch der öffentlichen Sicherheit besser hätte dienen können. Für die Lotsen war Stress etwas ganz anderes als die biochemische Reaktionen des Körpers auf die entkräftenden Gefühle und Erfahrungen dieser Arbeit. Für sie bedeutete Stress eine überhöhte Arbeitsgeschwindigkeit und Präzisionsforderung, die ihnen keine Zeit zum Nachdenken, zur Überprüfung und Selbstkorrektur ließen – wobei Tausende von Leben in sicheren oder gefährlichen Landungen auf dem Spiel standen. Stress bezog sich auf ihre Erfahrung, lange und ohne Erholungspausen auf einen Radarschirm zu starren und unter intensiven Anforderungen sowie unerbittlichem Zeitdruck lebenswichtige Entscheidungen zu treffen.
Solcher Stress war eine häufig empfundene Dimension des Arbeitslebens der Fluglotsen, und viele bemerkten, dass darauf typischerweise Befindlichkeiten folgten wie Schlaflosigkeit, Ablenkbarkeit, Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung von Beziehungen zu Freunden, Freude und Vergnügen zu empfinden. Diese Erfahrungen der Fluglotsen legten andere Maßstäbe für die Dimension von Stress und der Erklärung seiner Ursachen und Folgen nahe als die Maßstäbe der wissenschaftlichen Experten der FAA.
Selbstverständlich machen diese Erfahrungen allein noch keine wissenschaftliche Erkenntnis des Stresses, seiner Ursachen und seiner Folgen aus. In diesem Kampf zwischen Arbeitern und Management wurde das Interesse der Arbeiter – entweder den Stress zu reduzieren oder eine bessere Vergütung dafür zu bekommen – nicht in die rivalisierenden epistemischen Maßstäbe und Forschungspraktiken übersetzt, die womöglich wissenschaftliche Erkenntnisse produziert hätten, die ihre Behauptungen und Interessen gerechtfertigt hätten. Obwohl die Fluglotsen und ihre Verteidiger sich dieser Option der wissenschaftlichen Forschung nicht bewusst waren, können wir die Möglichkeit einer derartigen erfolgreichen Gegenerkenntnis von Stress, die auf einer objektiven Untersuchung der kausalen Verbindungen zwischen Arbeitsbedingungen, subjektiven Befindlichkeiten und negativen Resultaten außerhalb der Arbeitswelt beruht, nicht ausschließen. Eine solche wissenschaftliche Forschung, geprägt von einer Menge epistemischer Maßstäbe und Werte, die nicht mit denen der Verhaltensforscher übereinstimmten (zum Beispiel bezüglich der Definition von Stress), könnte erfolgreich werden und eine wohlfundierte Infragestellung der Tatsachen in Bezug auf den Stress in solch einem Fall liefern.
Im Endeffekt intervenierten die Verhaltenswissenschaftler in den Kongressdebatten zwischen Arbeitern (Fluglotsen) und Management (FAA) – vielleicht sogar absichtlich – zugunsten des Managements. Ihr biologisches Paradigma von Stress als einem messbaren körperlichen Zustand war Ausdruck ihrer spezifischen Maßstäbe für Objektivität, Messung, Genauigkeit und Evidenz. Die Tatsachen, die diese Experten produzierten, diskreditierten die laienpsychologischen, alltagsprachlichen Berichte der Fluglotsen zu deren Nachteil. Für die Beteiligten in diesem Konflikt der Interessen oder Werte triumphierte wissenschaftliche Autorität über Laienmeinung, und Tatsache besiegte bloße Meinung.
In den Kongressanhörungen erschien dies als sachlicher Disput zwischen zwei Parteien über dasselbe Phänomen: Stress bei der Arbeit der Fluglotsen. Die FAA, gestützt durch das Expertenurteil der Verhaltenswissenschaftler, erreichte den Sieg – weil Stress von beiden Seiten für ein wissenschaftliches Konzept gehalten wurde und die Verhaltenswissenschaftler im gegebenen Kontext über das Konzept verfügten. Somit sprachen >>die Tatsachen<< für die Interessen der FAA und gegen die Interessen der Fluglotsen sowie gegen weitere moralische Werte, die betroffen waren, als Reagan die Lotsen entließ und die Gewerkschaft zerbrach.
Die Wertgeladenheitsthese kann eine Grundlage für eine kritische Theorie wissenschaftlicher Argumente in Fällen wie diesem liefern. Diese Theorie macht die Akteure auf mögliche rivalisierende Interessen und epistemische Werte bei Meinungsverschiedenheiten aufmerksam, bei denen es oberflächlich nur um >>die<< Tatsachen zu gehen scheint. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen der FAA und den Fluglotsen war im Kern normativ, abhängig von unterschiedlichen Interessen, rivalisierenden Maßstäben und gegensätzlichen Ansichten von Stress, seiner Natur, seinen Ursachen, Folgen und seiner Heilung. Die Fluglotsen zahlten einen hohen Preis, weil die involvierte Erkenntnispolitik unsichtbar war und ihre Interessen und Stresserfahrungen nicht durch wissenschaftliche Expertise und Wissen zum Ausdruck gebracht wurden. Wäre die Debatte in diesem Licht neu ausgerichtet worden, wäre sie möglicherweise rationaler, objektiver und wahrheitsdienlicher gewesen. Wenn es in Disputen unter Wissenschaftlern oder zwischen ihnen und Laien rivalisierende praktische und epistemische Werte geht, ist es der Rationalität der Wissenschaft am dienlichsten, wenn diese normativen Differenzen sichtbar gemacht werden und klar wird, dass wir als Erkennende immer schon unauflöslich in Vorstellungen darüber verstrickt sind, was angestrebt werden soll, wie man Wissen erreicht und was man glauben soll. Wenn diese Vorstellungen gut begründet sind und zu einer empirisch erfolgreichen Wissenschaftspraxis führen, dann sind praktische Rationalität, Wissensfortschritt und neue Einsichten in die Natur in der Geschichte des kognitiven menschlichen Fortschrittes miteinander verbunden. Angestoßen durch die Erweiterung unserer praktischen und epistemischen Werte, werden neue Tatsachen und Wahrheiten erschlossen.“
Zitat Ende