Eine Wette: Schnecke gegen Ziege

Die Wette zwischen Schnecke und Ziege

Als ich im Jahre 1973 meine Examensarbeit anfertigte, ging ich regelmäßig zum Mittagstisch in die Behelfsmensa der neu gegründeten Universität Konstanz. Dabei kam ich einmal am Schwarzen Brett eines Universitätsinstituts vorbei und dort fiel mir ein merkwürdiger Aushang auf.

Es war ein DIN A4-Blatt, auf dem stand rechts die Umrisszeichnung eines Turms und links ein Witz. Ich erzählte diesen Witz noch Jahre später weiter und jedes Mal wurde gelacht.

In einem Ministerium war ein Turm.

Eine Ziege und eine Schnecke schlossen eine Wette,

wer zuerst die Spitze des Turms erreichen würde.

Die Schnecke gewann.

Durch Kriechen.  

Die Handelnden tragen hier Tiernamen und der Witz ist deshalb unter die Fabeln einzureihen. Als Witz ist das Ganze stark verkürzt. Der Erzähler will eine Pointe erzielen, damit gelacht werden kann. Die Bedeutung der Fabel wird erst im größeren Zusammenhang klar. Deshalb stelle ich einige Eigenschaften der beiden Fabeltiere zusammen und frage, ob die angezeigte Situation zutreffen kann.

FabelwesenSchneckeZiege
Bezeichnung von Friedrich Schiller1BrotgelehrterUniversalgelehrter
Streben nachErfolg und EinkommenWahrheit
Gesellschaftgeschlossen – autoritäroffen -demokratisch
Umgang mit neuen InformationenGeheimhaltungTransparenz
Konkurrenzinnerhalb der Institutionzwischen den Institutionen
 Intrigen jeder gegen jedenGegenseitige Hilfe
Gebrauch der Vernunft nach I. Kant2PrivatgebrauchÖffentlicher Gebrauch
Offizieller Beginn der Tätigkeit nachErnennungBerufung
BereichOrdnungChaos

Die menschliche Gesellschaft erscheint sehr kompliziert. Kann ich die obige Tabelle als Ausgangspunkt für Ausführungen über einen Dualismus in der menschlichen Gesellschaft nehmen?

Es braucht ein gewisses Maß an Ordnung, um das eigene Leben zu erhalten, aber die nötigen Veränderungen von einer Generation zur anderen wirken als Regelbrüche und benötigen deshalb gut durchgearbeitete Regeln zur Verhütung der Anarchie.

Zwei Typen von Menschen sind zu unterscheiden:

Menschen, die für die Ordnung leben, hauptsächlich im Militär-, Verwaltungs- und Wirtschaftsbereich, und dort nach Erfolg, Einkommen und Einfluss streben,

Menschen, die für den Regelbruch leben, hauptsächlich in wissenschaftlichen Institutionen und dort nach Wahrheit streben.

Menschen der Ordnung wünschen während Ausbildung und Arbeit sichere Leitlinien zur Verwaltung von lebenden und nicht lebenden Resourcen, z. B. von Forsten, Wild- und Fischbeständen, Grundwasser und Mineralien, um einiges zu nennen.

Aber die Menschen der Regelbrüche, mit einer Haltung des Zweifelns und Suchens, wollen einfach nur die Schönheit der Natur kennen lernen und in sich aufnehmen. Das waren meine Gefühle in den Zwanzigern, wie ich mich erinnere. Dann kam ein Bruch und in der folgenden Lebenskrise wurde mir ein Harmoniebedürfnis bewusst. Ich begriff das als Arbeitsaufgabe und übertrug das Harmoniebedürfnis in die Arbeit für die professionelle Lösung von Problemen mit dem Ziel, die Reibungen zwischen den Interessengruppen innerhalb der Gesellschaft zu vermindern.

Solche Menschen der Regelbrüche sind immer in der Gefahr des Scheiterns. Im günstigen Falle, wenn sie ihre Anerkennung in der Gesellschaft finden, werden sie Lehrer und Wissenschaftler. Aber vorher begegnen sie einer Haltung, die einen Regelbruch als Störung3 betrachtet und entsprechend werden sie behandelt.

Ein Lehrer wird beide Menschentypen unter seinen Schülern finden, den künftigen Verwalter und den künftigen Gelehrten. Er muss sich auf beide Menschentypen einstellen und mit ihnen arbeiten. Wobei ausdrücklich festzuhalten ist, dass die Trennlinien nicht klar verlaufen. So gibt es sicherlich hoch angesehene Gelehrte, die in ihrem Verhalten und in ihrem äußeren Erscheinungsbild mehr einem Verwalter gleichen.

Die bestehende Ordnung ist eine Sache von heute. Aber wer erarbeitet das Wissen für die folgende Generation? Ich denke hier nicht an die ingenieurwissenschaftliche Bearbeitung von technischen Problemen, sondern an die fachlichen Grundlagen von Problemen, welche im Hintergrund von Interessenkonflikten stehen. Fachliche Problemlösungen können neue Ansatzpunkte für die Entschärfung von Interessenkonflikten sein.

Neue Informationen tragen immer ein Risiko in sich. Bin ich mutig, sie zu prüfen?

Eine Ernennung erfolgt auf Grund von guten Dienstleistungen und von erwiesener Loyalität für Offiziere und Beamte.

Eine Berufung erfolgt auf Grund der öffentlichen Darstellung einer besonderen Leistung und sie ist die Anerkennung einer geistigen Führerschaft.

Ich wundere mich, dass in dieser Aufstellung die Menschen der Ordnung schlechter wegkommen als die Menschen des Chaos, z. B. in dem zitierten Witz und in Schillers Antrittsvorlesung. Ich finde zu unrecht. Denn ohne Ordnung wäre ein Zusammenleben in der menschlichen Gesellschaft nicht möglich. Würde ich die Größe der Bereiche vergleichen, dann könnte ich der Ordnung 95 % zubilligen, dem Chaos 1 %.

Dazwischen ist eine Übergangszone von 4 %, wenn es gut geht. In dieser Übergangszone erfolgt der Austausch zwischen den beiden Bereichen, wobei nicht ausgeschlossen ist, dass einzelne Personen die Grenzen zeitweilig weit überschreiten. Die Übergangszone ist nicht als starr anzusehen, sondern als sehr beweglich. Die Größe des Bereichs Chaos ist sehr klein zu halten.

Die neuen Informationen, welche ständig oder in Schüben im Bereich Chaos produziert werden, sind im Übergangsbereich zu prüfen, ob sie tauglich sind für neue Regeln in der Ordnung. Ein Vertreter des Chaos tut gut daran, ständig Kontakt mit der Ordnung zu halten, um auf eine reibungsarme Weise die neuen Ideen prüfen zu können und prüfen zu lassen. Eigentlich ist es selbstverständlich, es ist aber ausdrücklich festzuhalten, dass Bewährtes beizubehalten ist. Bisheriges Wissen ist nur dann durch neues zu ersetzen, wenn damit wesentliche Verbesserungen zu erzielen sind4.

Es kann aber geschehen, dass die Grenzen zwischen beiden Bereichen verschoben sind und die Übergangszone eingedrückt. Verhärtung oder Anarchie sind die Folgen, je nachdem, von welcher Seite die Bewegung erfolgt war.

Über grundsätzliche Fragen darf ich im öffentlichen Gebrauch der Vernunft räsonieren2. Darauf bestehe ich. Mir bleibt das Risiko des Scheiterns, dessen bin ich mir bewusst.

Solange eine Institution 100 % ihres Haushalts plus Inflationsausgleich jedes Jahr neu aus dem Staatshaushalt erhält, wird sie sich bemühen, ihr Personal nach Möglichkeit aus Eigengewächsen selbst zu rekrutieren, ihre Stabilität zu erhalten und auf die Anwendung von Standardvorschriften achten – weiter so wie bisher und gut abgeschottet. Regelbrüche sind nicht erlaubt. Ich bewerte das als einen Teufelskreis, der nach unten in eine Erstarrung führt, ein Eindringen der Ordnung in den Übergangsbereich gleich einem Eroberungszug.

Gibt die Regierung aber den Fall, dass die Institution ihren laufenden Betrieb zu einem Drittel aus eingeworbenen Drittmitteln finanzieren muss, wird sie sich als Institution im Wettbewerb sehen um die besseren Ideen, um die besseren Projektvorschläge und um das bessere Personal, das förderungswürdige Projektanträge formulieren kann. Das hat einen hohen Anteil an Fremdrekrutierung zur Folge. Die Antragsteller sind sich bewusst, dass mehr Einsicht in die Zusammenhänge oft eine Verbesserung der Arbeitsmethodik bedingt, m. a. W. sie suchen nach den Schwachstellen der Standardvorschriften, um Verbesserungen zu erarbeiten – unabhängig von Gruppeninteressen. Regelbrüche werden auf ihren Gehalt an möglichen neuen Erkenntnissen und Methodenverbesserung geprüft. Ich bewerte das als einen Engelskreis, der hilft, in einem weltweiten Wettbewerb mitzuhalten.

Literatur:

1.

F. Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede. Gehalten am 26.Mai 1789 in Jena. In: Sämtliche historische Schriften. S. 7-25. Phaidon Essen.

2.

I. Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Berlinische Monatsschrift. Dezember-Heft 1784. S. 481-494.

3.

P. Feyerabend: Wider den Methodenzwang : Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie. – 1. Aufl.. – Frankfurt a. M. : Suhrkamp, 1976.

4.

P. Feyerabend: Irrwege der Vernunft. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Blasius. 1. Aufl.. – Frankfurt a. M. : Suhrkamp, 1989.